EZLN: Fangen wir erneut an?
1. August 2024.
Der Feigenbaum schleift den Wind
mit der Rinde seiner Zweige,
der Berg, eine Marderkatze, sträubt
seine stachlig-bitteren Agaven.
Wer jedoch wird kommen? Und wohin …?
(Federico García Lorca: Romance Sonámbulo)
Ja, der Wind und der Berg, die Montaña, scheinen sich seit längerem zu kennen. Ich könnte euch das genaue Datum sagen, aber das ist jetzt nicht wichtig. Dieser Widerstand oder das ausdauernde scheinbare Resignieren ist vielleicht nicht zu verstehen: Der Berg, der den einen oder anderen Hieb erträgt; und der Wind, der sich anscheinend zurückzieht und als besiegt gibt, um dann erneut zurückzukehren. Immer dasselbe, immer unterschiedlich.
Es sind jedoch nicht diese überstürzten Annäherungen, die den Berg sorgen. Er hat schon schlimmere erlebt, wenn ihr danach fragt. Nein, was ihn sorgt, sind die Stürme, die mit Schaufelbaggern und Abräummaschinen daherkommen, mit Mineralien-Suchern und Touristen-Unternehmen, mit Fabriken, Einkaufzentren, Zügen und Regierungen, die simulieren zu sein, was sie nicht sind, mit Zerstörung und Tod. Zusammengefasst: das System.
Somit wäre es also nicht verwunderlich, wenn Berg und Wind zu einer Übereinkunft kämen. Immerhin teilen sie dieselbe Mutter: Ixmucané, die Allerweiseste.
Nein, ich werde euch nicht das genaue Datum ihres ersten Zusammentreffens verraten. Aber sagen wir mal, sie kennen sich aus früheren Zeiten. Der skeptische Gesichtsausdruck und das missbilligende Grimassenschneiden des Bergs, angesichts der ersten Blitze und Windböen, sind bereits Rutine. Ebenso die Unverschämtheit des Windes gegen den Berg loszubrausen, mittels der Kraft von Regen, Wind, Donner und Überschwemmungen. Die Schrammen und Kratzer, die der Wind aus ungeschickter Leidenschaft zufügt – Wunden wie Wassergräben – schaffen es nicht, die scharfe Zurückweisung des Berges zu mildern. Sie treffen sich, sie verfehlen sich. Letztendlich umarmen sie sich und verabschieden sich ohne Versprechen oder Geständnisse zu machen. Eine komplexe Beziehung, die viel von Zustimmung und Zurückweisung hat. Nun, von »Liebe«.
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Sie sagen, es wird gesagt, dass sie erzählen: Eine Legende, die noch zu schreiben ist, besagt: Es gab da eine Versammlung, zu der riefen sie die Familie des Votán, Bewahrer und Herz des Pueblo, herbei. Und so sprach die Montaña:
»Meine geliebten Kinder, es kommt bereits das heran, was ihr zuvor auf meiner Haut und in meinen Haaren gelesen habt. Der brüderliche Wind, der Señor Ik‘, bringt grausame Nachrichten von einem anderen Sturm, dem tödlichsten von allen. Wir wissen es bereits. Und es ist an jeder Familie, zu widerstehen und zu verteidigen. Ihr seid die Bewahrer, die geschaffen wurden, um zu schützen. Ohne euch sterben wir und irren ziellos herum. Ohne uns (1) werdet ihr wieder zu verlorenen, verirrten Wesen mit lediglich Leere im Herzen und ohne Hoffnung in eurem Leben. Der Ik‘ erzählt, was sein Herz gesehen hat: Im Himmel wie auf der Erde teilen die Tiere die Unruhe und Beklemmung.
Dies hören sie im Cauca und in den Ortschaften Sloweniens. In Japan und Australien. In Kanada und im SLUMIL K ́AJXEMK ́OP [dem widerständigen Europa]. In Norwegen, Schweden, Dänemark und Nicaragua, welches nicht aufgibt, sich nicht verkauft, niemals! In La Polvorilla und in der Wunde, die der Tren Transístmico reißt – eine eiternde Wunde im Herzen der Pueblos originarios, die kämpfen. Sie hören es in den Ländern, die der Krieg als Unglück und Elend vervielfacht und wo welche Offene Arme (2) haben, um die Schutzlosen zu retten. In Ostula und Grönland. Im gefolterten Haiti und den Cenotes Mayas (3), deren Ruf geschädigt wird durch die Eisenbahnschienen der Demagogie. Bei den gewaltsam Vertriebenen und durch Erpressung aus dem Leben Zwangsgeräumten. Innerhalb des libertären A, welches seit langem darauf hinweist: Der Staat ist keine Lösung, er ist ein Problem. Beim palästinensischen Mädchen, das mit jener Bombe die Unwägbarkeit des Lebens erhalten hat, und mit ihr die Gewissheit des Todes.
Derart sprechen sie zum geschwisterlichen Pueblo der Saami, der Mapuche, der Roma mit dem Haus auf dem Rücken, den Pueblos originarios aller Länder und Meere, zu dem*derjenigen, der*die kämpft und widersteht auf dem Land und dem, was darauf wächst, dem Fischer, der auf dem Meer das Leben bearbeitet. Sie erzählen es Mädchen, die die vergessene Sprache verstehen, und Jungen mit ernstem Blick. Frauen, die gewaltsam Verschwunden gemachte suchen. Bereits Älteren, die ihre Narben als trauernde Falten bedecken. Dem*derjenigen, die*der weder sie noch er sind; und dies verflucht egal ist. All den Menschenwesen, die wie der Mais alle Farben und wie beim Essen, Heranwachsen und Entstehen alle Arten und Weisen haben.
Aber nicht alle hören zu. Nur der*diejenige, der*die weit und tief sieht, versteht das, was das Wort Ixmucanés, der Allerweisesten, besagt und und wozu es rät.
Somit, meine Kinder, sucht den Modus. Und sucht den*diejenige. Erhebt das Wort – mit dem Señor Ik‘ in der einen und mit meinem Herzen in der anderen Hand. Erinnert die Welt, dass der Tod und das Morgen in den Schatten der Nacht entstehen. Das Licht entzündet sich in der Dunkelheit.«
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Ja, sie trafen sich erneut, Wind und Berg, la Montaña. Diesmal war es jedoch anders. Die Ankunft der Morgendämmerung hatte sich verzögert, atemlos vielleicht durch die Hitze; beim ersten Sonnenstrahl, der den Huapác-Berg streifte, zeigte sie sich jedoch unmittelbar mit einem heftigen Regen.
In der Champa, der Holzhütte, war durch den Lärm der auf das Wellblechdach fallenden Tropfen wenig oder nichts anderes zu hören. Dank des schwankenden Wohlwollens eines Feuerzeugs war auf einem Tisch mit Brandspuren und Tabakkrümeln ein Papier mit vielerlei Gekritzel gut zu sehen. Das Einzige, was darauf klar zu lesen stand, war:
»Die Geduld ist Tugend des Kriegers.«
Nun gut. Salud und dass die Nacht uns vorfindet, wie es Gesetz ist: wach.
Aus den Bergen des Südosten Mexikos.
Der Capitán.
August 2024.
PS. Na klar, und auch der Kriegerin. Ja und der*die Krieger*in, loa guerreroa. [Aber]: le guerrere (4)? Wirklich?
Anmerkung der*die Übersetzer*in:
(1) Hier steht im Original nosotras, damit sind die zapatistischen Comunidades gemeint.
(2) Hier wird sich wohl auf die die Organisation Open Arms bezogen.
(3) cenotes: unterirdische Wasserreservoire und Höhlen, die bei den Pueblos Mayas in Yucatán eine wichtige auch spirituelle Bedeutung haben. Ein Teil der Streckenführung des Tren Maya (das sind die weiter oben genannten »Eisenbahnschienen der Demagogie« des neoliberalen mexikanischen Präsidenten López Obrador) verläuft unmittelbar über Cenotes, die damit einzustürzen drohen.
(4) Wenn die Zapatistas sich auf Transgender-Personen und alle anderen nicht-binären Gender beziehen, sprechen sie von loa otroa/ die*der Andere*. Die Endung »e« (anstatt »oa« wie bei den Zapatistas) wird jetzt oftmals in anderen Zusammenhängen dafür verwendet.